Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Hie bevorn do wir kinder waren

Der wilde Alexander reitet vom Hof; Abbildung aus dem Codex Manesse

Das vorliegende Lied des Wilden Alexanders vermag es, uns durch seine Bildhaftigkeit anzusprechen. Da ist vom sorglosen Herum- tollen die Rede, ist vom Pflücken der Erdbeeren zu hören, unter dem wärmenden Strahlen der Sonne, und fast meinen wir, die Süße der Früchte verspüren zu können, die Freude der kindlichen Mädchen und durch den Wald, so scheint es uns, tönt noch immer ihr Lachen. Doch von Anfang an schwebt ein Zug von Wehmut über der geschilderten Szenerie, denn es handelt sich um die Erinner- ung einer alten Frau, die ihrer unbeschwerten Jugend hinterhertrauert, einer Kindheitserinnerung ...

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Kleiner Zwischenraum

Damals, als wir noch Kinder waren

Damals, als wir noch Kinder waren
wenn es denn die Jahreszeit war,
dass wir über die Wiesen liefen,
dorthin und wieder her,
wo wir manchmal
Veilchen fanden,
da sieht man nun Rinder toben.

Ich erinnere mich noch gut, dass wir saßen
in den Blumen und uns maßen,
welche wohl die Schönste sei.
Damals erstrahlte unsere kindliche Schönheit
mit dem frischen Kranz
beim Tanz.
So geht die Zeit dahin.

Seht, da liefen wir Erbeeren suchen
von der Tanne zur Buche,
über Stock und Stein
solange als die Sonne schien.
Da rief ein Waldhüter
durchs Reisig:
'Wohl dann, Kinder, geht nun nach Hause!'

Wir bekamen alle Flecken,
gestern, als wir Erdbeeren pflückten;
das war uns ein kindliches Spiel.
Da hörten wir immer wieder
unseren Hirten rufen
und warnen:
'Kinder, hier gibt es viele Schlangen!'

Es ging ein Kind durchs Gras,
das erschrak und rief sehr laut:
'Kinder, hier kroch eine Schlange hinein,
die hat unser Gevatterlein gebissen.
Es wird nimmermehr gesund,
es muss für immer
krank und unselig sein.

Wohl dann, geht aus dem Walde!
Und beeilt ihr euch nicht dabei,
dann geschieht euch so, wie ich's sage:
Schafft ihr es nicht bei Tage
den Wald zu verlassen,
so verspätet ihr euch
und eure Freude wird zur Klage.

Wisst ihr nicht, dass fünf Jungfrauen
sich in den Wiesen verspäteten,
bis der König den Saal verschloss?
Ihre Klage und ihr Schaden waren groß;
denn die Wächter
zerrten ihnen das Gewand herab,
so dass sie der Kleider bloß waren.

Hie bevorn dô wir kinder waren

Hie bevorn dô wir kinder waren
und diu zît was in den jâren
daz wir liefen ûf die wisen
von jenen her wider ze disen,
dâ wir under stunden
vîol vunden,
dâ siht man nu rinder bisen.

Ich gedenke wol daz wir sâzen
in den bluomen unde mâzen
welich diu schœneste möhte sîn.
dâ schein unser kintlich schîn
mit dem niuwen kranze
zuo dem tanze.
alsus gêt diu zît von hin.

Seht, do liefe wir ertberen suochen
von der tannen zuo der buochen
über stock unde stein
der wîle daz diu sunne schein.
dô rief ein waltwîser
durch die rîser
'wol dan, kinder, und gêt hein'

Wir enpfiengen alle mâsen
gestern dô wir ertberen lâsen;
daz was uns ein kintlich spil.
dô erhôrte wir sô vil
unsern hirten ruofen
unde wuofen
'kinder, hie gêt slangen vil.'

Ez gienc ein kint in dem krûte.
dz erschrac und rief vil lûte
'kinder, hie leif ein slang în,
der beiz unser phetterlîn;
daz enheilet nimmer,
er muoz immer
sûren unde unsaelic sîn.'

Wol dan, gêt hin ûz dem walde!
unde enîlent ir niht balde,
iu geschiht als ich iu sage:
erwerbent ir niht bî deme tage
daz ir den walt rûmet,
ir versûmet
iuch und wirt iuwer vreuden klage.

Wizzet ir, daz vünf juncvrouwen
sich versûmten in den ouwen,
unz der künic den sal beslôz?
ir klage unde ir schade was grôz;
wande die stocwarten
von in zarten
daz si stuonden kleider blôz.

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Die Jugend - rückblickend eine Zeit bar aller schlimmen Sorgen. Ist es da nicht selbstverständlich dass die Erinnerung, alles ver- klärend, eine goldenen Schleier über unwiederruflich Dahingegangenes legt? Dass dort, wo heute Rinder toben, einst stille Veilchen blühten? Ein schönes, wehmütiges Lied, die Altersklage auf die verlorene Jugend könnte man meinen, so man nur die ersten Strophen gelesen.

Doch dann, mit Fortdauer des Gedichtes, schleichen sich drohende Untertöne in den sonnigen Wohlklang. Warnungen übertönen das Lachen, wieder und wieder. Gefahr droht, denn hier, so der 'Hirte' der Kinder, gäbe es Schlangen. 'Geht, Kinder! Geht heim und eilt, dass euch die Dunkelheit nicht im Walde überrascht. Auf dass es euch nicht ergeht wie dem Patenkind, dass einst von einer solchen Schlange gebissen, nun keine Heilung mehr finden kann, auf das euch nicht widerfahre, was den fünf Jungfrauen geschah, als sie aus des Königs Hallen geschlossen wurden ...

Das Warnung, dass nicht ob aller weltlichen Freuden die hereinbrechende Nacht übersehen werden möchte, die drohende Gefahr durch die Schlange, der Hinweis auf die fünf törichten Jungfrauen, die einst die rechtzeitige Umkehr versäumten - dies alles lässt in uns ein Gefühl aufkommen, dass der Dichter, Meister Alexander, wie er in Jenaer Liederhandschrift genannt wird, wohl ein fahrender Sänger (der eventuell dem niederen Adel angehörte) und der möglicherweise um die Mitte des 13. Jhdts. dichtete, dass dieser Alexander mehr im Sinn hatte, als nur eine Kindheitserinnerung wiederzugeben.

Und tatsächlich wird das 'Kindheitslied' heutzutage vielfach als allegorische Rede betrachtet, in dem sich hinter den plastischen Bildern von unbeschwerten weltlichen Freuden und drohenden Gefahren Mahnungen an den Tod und Gottes Gericht verbergen, was sich in der Schlussstrophe andeutet. Die Verspätung der Jungfrauen lässt an die biblische Parabel von den klugen und den törichten Jungfrauen denken, wenn sich auch bei Alexander die Mädchen nicht bei den Krämern sondern in den Auen versäumen. Weitere Motive scheinen aus der Bibel eingewirkt zu haben - so erinnern etwa die Bemerkungen von den Flecken und später vom Herunterreißen der Kleider an das Gleichnis vom fehlenden hochzeitlichen Kleid.

Und die Kindheitserinnerungen selbst? Das Bild von den Erdbeeren? Das findet sich schon bei Vergil, wenn er schreibt: Die ihr Blumen sammelt und am Boden wachsende Erdbeeren, - ihr Knaben, flieht von hier - kalt lauert die Schlange im Kraut!' Beim Römer Teil eines Wettgesanges zweier Hirten, Verse, in denen der Warner spricht, lässt Alexander das Bild in der Erinnerung der alten Frau erstehen, als wehmütige Erinnerung an die unbefleckte Kindheit, die in allegorischem Sinne in ihrer Schönheit und Unschuld auf das Paradis verweist, aus dem der Mensch vertrieben wurde. So darf bei dem 'Gevatterlein', das auf ewig an dem Biss der Schlange darben muss, mit gewisser Berechtigung an den biblischen Urvater Adam gedacht werden ...

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