Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Neugier eine Tugend? - Der Gral in Wolframs Parzival, Teil 2

Darstellung des Fischerkönigs auf einem Säulenkapitel der Templerkirche von Mensano,  Mitte des 12.Jhdts.

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Nun denn, nachdem uns in der vorangegangenen Episode das Erscheinen des Gral geschildert wurde, wie er in der Burg des Fisch- erkönigs, in der geheimnisvollen Festung Munsalvaesche, vor den verdutzten Toren Parzival getragen wurde, der ob soviel Wun- derbarens, dass ihm da vor die Augen kam, wohl gar nicht wusste, was er mehr bestaunen sollte, diese seltsamen Utensilien oder die hübschen jungen Frauen, befinden wir uns nun inmitten des anschließenden Festmahls, das dem Gast geboten wird.

Der staunt nicht schlecht, ob der schon erwähnten wunderbaren Eigenschaften des Grals, jeglichen Wunsch der tafelnden Gäste zu erfüllen, egal um welche Speise es sich dabei handelt, um welch ausgefallenen Trank: Wein, ob von Traube oder Maulbeere oder angemacht, und hätte jemand Vodka-Martini bestellt, selbstverständlich gerührt und nicht geschüttelt, wohl wäre auch die- ser Wunsch erfüllt worden.

Neugierig ist er schon, der Junge, der ungefragt in dieses Abenteuer gestolpert ist, nichtsahnend und ob seiner Jugend, die wohl alle Edelfräulein entzückt, unerfahren. Und hier offenbart sich denn eine neue Eigenschaft dieses seltsamen Gegenstandes Gral. Denn der Gral ist es, der bestimmt, wer ihn zu Gesicht bekommt und wer ihn finden kann. So wie die Gralsburg nur dann gefunden werden kann, wenn es an der Zeit dazu ist. So wie in Parzivals Fall, obwohl es eigentlich dann eigentlich noch zu früh für ihn ist - viel zu früh, wie die folgenden Ausschnitte andeuten mögen, in denen er Wichtiges verabsäumt ...

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Kleiner Zwischenraum

Parzival (I,5/239 1ff)

Maulbeerwein, Traubenwein oder roter Sinopel,
wonach den Becher jeglicher auch ausstreckte,
welch Trank auch genannt wurde,
das fand sich im Kelch
durch die Wunderkraft des Grals.
Die vornehme Gesellschaft
wurde vom Gral bewirtet.
Wohl bemerkte Parzival
Reichtum und das große Wunder,
doch seine höfische Erziehung erstickte jede Frage.
Er dachte: 'Gurnemanz riet mir
wohlwollend und ohne Hintergedanken,
dass ich auf unnützes Fragen verzichten sollte.
Vielleicht geschieht mir hier,
wie es auch bei ihm geschah?
Ich werde auch ohne Fragen erfahren,
wie es um diesen Hofstaat steht.'
Während er dies dachte, kam
ein Knappe heran, der ein Schwert trug.
....
Oweh, dass er da nicht fragte,
darüber bin ich um seinetwillen unglücklich.
Als man es nämlich in seine Hand legte,
wollte man ihn damit zum Fragen ermuntern.
Auch dauert mich sein freundlicher Gastgeber,
dessen Leiden nicht enden wollte,
und dem doch eine Frage Heilung gebracht hätte.
Genug hatte man gegeben.
Die Bediensteten griffen zu
und trugen das Geschirr wieder hinaus.
Man belud die vier Wagen
und die Edeldamen versahen wieder ihren Dienst,
die letzten waren nun die ersten.
Sie geleiteten die Vornehmste
wieder zum Gral.
Vor dem Gastgeber und Parzival
verneigten sich höfisch Königin
und alle Jungfrauen.
Sie brachten wieder hinaus,
das sie zuvor hereingetragen hatten.
....
Der Herr der Burg sprach zu seinem Gast:
'Ich denke, dass Euer Lager nun bereitet ist.
Seid ihr müde, so rate ich Euch,
zieht Euch zurück und legt euch zur Ruhe.'
Nun sollte ich eigentlich laut jammern,
ob des Abschieds, den sie nahmen,
denn daraus wird beiden großes Leid erwachsen.
....
Das Burgtor
fand er weit offen stehen.
Dadurch führte die Spur einer großen Schar.
Nicht länger verweilte er da,
in raschem Trab ritt er auf die Zugbrücke.
Ein verborgener Knappe zog da am Seil,
sodass die hochschnellende Fallbrücke
beinahe noch das Pferd abgeworfen hätte.
....
'Ihr sollt fortan unter dem Hass der Sonne reiten',
rief der Knappe. Ihr seid eine (dumme) Gans.
Hättet ihr doch nur den Schnabel aufgetan
und den Burgherren gefragt!
Viel Ehre habt ihr verspielt.'
....

Parzival (I,5/239 1ff)

Môraz, wîn, sinôpel rôt,
swâ nâch der napf ieslîcher bôt,
swaz er trinkens kunde nennen,
daz mohte er drinne erkennen
allez von des grâles craft.
diu werde geselleschaft
hete wirtschaft von dem grâl.
wol gemarcte Parzivâl
die rîchheit unt daz wunder grôz:
durch zuht in vrâgens doch verdrôz.
er dâhte 'mir riet Gurnamanz
mit grôzen triuwen âne schranz,
ich solte vil gevrâgen niht.
waz ob mîn wesen hie geschiht
die mâze als dort bî im?
âne vrâge ich vernim
wie ez dirre massenîe stêt.'
in dem gedanke nâher gêt
ein knappe, der truog ein swert:
....
ôwê daz er niht vrâgte dô!
des bin ich vür in noch unvrô.
wan do erz enpfieng in sîne hant,
dô was er vrâgens mit ermant.
ouch riuwet mich sîn süezer wirt,
den ungenâde niht verbirt,
des im von vrâgen nu waere rât.
genouc man dâ gegeben hât:
die es pflâgen, die griffenz an,
si truogen daz gerüste wider dan,
vier karrâschen man dô luot.
ieslîch vrouwe ir dienest tuot,
ê die jungsten, nu die êrsten.
dô schuofen si aber die hêrsten
wider zuo dem grâle.
dem wirte und Parzivâle
mit zühten neic diu künegîn
und al diu juncvröuwelîn.
si brâhten wider în zer tür
daz si mit zuht ê truogen vür.
....
der wirt ze sîme gaste sprach
'ich waen man iu gebettet hat.
sît ir müde, so ist mîn rât
daz ir gêt, leit iuch slâfen.'
nu solt ich schrîen wâfen
umbe ir scheiden daz si tuont:
ez wirr grôz schade in beiden kunt.
....
die porten
vand er wît offen stên,
derdurch ûz grôze slâ gên:
niht langer er dô habte,
vast ûf die brücke er drabte.
ein verborgen knappe daz seil
zôch, daz der slagebrücken teil
het daz ors vil nâch gevellet nider.
....
'ir sult varen der sunnen haz',
sprach der knappe. 'ir sît ein gans.
möht ir gerüeret hân den vlans,
und het den wirt gevrâget!
vil prîses iuch hat betrâget.'
....

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Uns, den Lesern, gesteht Wolfram immerhin Informationen darüber zu, welch Vergehens sich denn dieser junge Kerl auf dieser Burg zu Schulden kommen lässt. Wenn auch nur bruchstückhaft in vielen Andeutungen. Nicht so jedoch die Mitglieder dieses seltsamen Hofstaates, in dessen Mitte der eigentümlich-traurige Fischerkönig - ja, auf dieser Burg ist wirklich alles rätselhaft - thront und offensichtlich leidet, dem Parzival. Was ist es denn, das er angestellt hat? Was dies Abenteuer zu einem Fiasko werden lässt? Oder besser, was ist es, das er unterlassen hat? Nun, er sitzt, staunt und wundert sich ... und hält seinen Mund. Leider, denn nur eine Frage, um das Leid des Gastgebers, hätte den geheilt von allem Übel und nichtendendwollendem Schmerz.

Doch Parzival gedenkt seiner einstigen Torheiten, die er begangen, als er als unbedarfter Tölpel bar aller Sitten schon mal Jung-frauen ungefragt geküsst - und darob unbedacht und ungewollt in große Schwierigkeiten brachte - und andere Dummheiten begangen hatte. Solange, bis ihn der weise Gurnemanz höfische Zucht und Sitten leerte, darunter jene, nicht zuviel Neugier zu zeigen. An diese Mahnung gedenkt sich der junge Gast zu halte, um nur keine weiteren gesellschaftlichen Fehltritte zu begehen. Aber in diesm Fall wäre Schweigen Silber, Reden Gold.

Ein erster Schritt, die Unterweisung durch Gurnemanz, ließ ihn die Regeln ritterlichen Tuns erlernen. Zumindest oberflächlich. Denn nun, in der Gralsburg zeigt sich, dass er noch nicht reif genug ist, die wirkliche Prüfung zu bestehen. Äußere Regeln und Vorgaben bieten einen Leitfaden, wie man sich zu benehmen hat. Anfänglich zumindest, wenn man sich seiner selbst noch unsicher ist. Doch die Entwicklung ist erst abgeschlossen, wenn man diese Regeln richtig einsetzt, aber auch versteht, in welchem Augenblick man sich darüber zu erheben hat. Wenn man die richtige Frage am richtigen Ort zur richtigen Zeit ausspricht. Aus dem richtigen Motiv heraus - aus Mitleid. Und hier versagt Parzival .... vorerst.

Aber es ist auch keiner zur Stelle, der ihm hilft, der ihm einen Ratschlag gibt, was denn nun zu tun sei, wie dies einst Gurnemanz tat. Der Gral hatte den völlig Unvorbereiteten gerufen und der versagt nun. Neugier ja, aber sie lässt ihn nicht die vorgegebenen Richtlinien vergessen. Auch scheint alles gut zu verlaufen beim Mahle. Ja, er erhält sogar ein wunderträchtiges Schwert zum Ge- schenk und wird hübschen Jungfrauen zu Bette geleitet. Alles in Ordnung also?

Nein, und er scheint zu ahnen, dass er gefehlt hat, denn schon in der Nacht quälen ihn grauenvolle Träume und des Morgens fin- det er sich alleine auf einer verlassenen Burg wieder. Niemand steht bereit, ihm beim Ankleiden zu helfen, niemand, der ihm Erklär- ungen liefern könnte. So verlässt er denn die Burg, in der Hoffnung, deren Herrn und seine Rittern noch einholen zu können, weg- gelockt von einer trügerischen Spur, die sich später im Walde verlieren wird, so wie die Burg wieder verschwindet. Zuvor jedoch, nachdem schon die Zugbrücke hochgegangen ist und die Rückkehr verwehrt, beschimpft und verflucht ihn noch ein zurückge- bliebener Knappe. 'Hättest du doch bloß den Schnabel nicht gehalten ....' und diese Vorhaltung wird den jungen Ritter noch lange verfolgen. Doch noch ahnt er nicht, wie schwer seine Verfehlung war.

In der Tat, ein seltsames Ding ist dieser Gral. Da ruft es den unzureichend Vorbereiteten, den Unreifen, der nichtsahnend in dies Abenteuer stolpert und der versagt bei der Aufgabe. Andere jedoch, die ihr Leben dieser Aufgabe widmen, werden erfolglos und desillusioniert zurückkehren. Oder ihre Gebeine baumeln von Bäumen, ihre Knochen bleichen in wüsten Landen. Die Gralsburg, der Gral, können nicht gefunden werden. Allenfalls finden sie selbst jene, die würdig sind, das Ziel zu erreichen.

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