Sælde und êre - Recht und Sitte in mittelhochdeutschen Originaltexten

' ... und tranc sant Jôhannes segen' - Aufbruch zum ungewissen Abenteuer

Der Sänger von Buochen mit seiner Dame; Ausschnitt aus einer Abbildung des Codex Manesse, frühes 14. Jahrhundert

Manchmal sind es einige wenige Zeilen in mittelalterlichen Texten, ein Reim vielleicht nur in einem Versepos, der - häufig rasch überflogen und übersehen - viel verraten kann von Eigenheiten und Sitten der Stände und der Menschen, die diese Stände bildeten. Dass dabei in einer Literatur, die ihr Augenmerk fast ausschließlich auf die adelige Gesellschaftsschicht richtete, rittelicher Gebrauch überproportional zur Erwähnung kommt, darf dabei nicht wundern. Wir jedenfalls nehmen diese 'Beiläufigkeiten' wohlwollend zur Kenntnis, eröffnen sie uns doch häufig einen Zugang zum Denken und zu den Gefühlen - zumindest der literarischen Helden.

Ein solcher Held ist zweifelsohne Erec, auch wenn er sich zwischenzeitlich schon mal 'verliegen', kann - aber wer könnte ihm das verdenken, mir einer so jungen und wunderschönen Gemahlin wie es seine Enide ist. Dass die anschließend anstehende Wiederherstellung seiner ritterlichen Ehre nur mit einer großen Portion arebeit, mit ansehnlichen Mühen und Gefahren also, verbunden ist, dürfte klar sein - wer viel Freud erleben will, muss dafür auch ordentlich einstecken können. Und Lebensgefahr ist allemal dabei - wie sich ein richtiger Held im Kontext des ausgehenden 12. Jahrhunderts auf so einen Kampf vorzubereiten hatte, das soll der folgende Ausschnitt aus dem mittelhochdeutschen Erecroman verdeutlichen

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Kleiner Zwischenraum

Erec (Vers 8632 - 8659)

Als ihm der Tag zum Kampfe schlug,
machte er's, wie's die Verständigen tun,
denn es war genug Grund zur Sorge.
Auf stand er sehr früh;
mit Frau Enide kam er,
um eine Messe zu vernehmen
zur Ehre des Heiligen Geistes,
und flehte dabei Gott inständig an,
sein Leben zu bewahren.
Desgleichen bat auch seine Frau.
Sorgfältig kümmerte er sich um sein Seelenheil
wie ein Ritter,
der gegen einen tapferen Mann zu fahren hat.
Nach der Messe schied er dann.
Da war das Frühstück bereitet,
reichhaltig, was er jedoch mied.
Er aß nicht viel,
aber von einem Huhn nahm er
drei Bissen, das deuchte ihm genug.
Einen Trunk trug man ihm auf,
und er trank den Johannessegen.
Gleich darauf wappnete sich der Held
und bereitete sich, wie's nötig war,
wollte er doch mitten hinein
in den Baumgarten reiten.
Nun war Frau Enides
Sorge so groß wie nie zuvor:
Tränen flossen ihr aus den Augen.

Kleiner Zwischenraum

Anmerkungen:

Der Besuch der Heiligen Messe mit dem Empfang der Kommunion war also das Erste und Vordringlichste, was es unmittelbar nach dem Aufstehen zu tun galt am Tag des bevorstehenden Waffengangs - das Wohl der Seele galt es zu sichern, bevor man in den Kampf zog, um Unholden, Ungläubigen oder anderen christlichen Rittern die Köpfe einzuschlagen. Erst nach dem Kirchgang durfte der Körper zu seinem Recht kommen, zum Frühstück nämlich, galt es natürlich auch, die Kraft der Arme zu erhalten für eine möglicherweise lange Auseinandersetzung.

Unser Erec macht, was kluge, kampferprobte Männer vor so einer Auseinandersetzung machen: Er belastet den Magen nicht über Gebühr; nur drei Bissen Huhn sind's, die er nimmt; schließlich soll das Denken nicht zu träge werden durch einen übervollen Bauch. Oder - halt, sollte das möglich sein? - oder ist es die Anspannung, ja Furcht selbst, die ihm den Appetit verleidet? Ein Blick ins wahre Innere eines Helden? Denkbar wäre es - schließlich steht ihm nicht irgendeine Aufgabe ins Haus, sondern die wahrscheinlich Schwerste von allen die er bestehen muss und die allesamt als Einsatz den seines Lebens verlangen.

Es ist niemand geringerer als der riesenhafte Mabonagrain, der sein Gegner sein soll an diesem Tag, ein fast unbezwingbarer Gegner - als ursprünglicher Halbgott der walisischen Mythologie -, der seinen und den Baumgarten seiner Geliebten mit in Boden gerammten Stämmen umgibt, von deren Enden schaurig die Köpfe seiner erschlagenen Duellgegner prangen. Bei so einem Gegner fängt man dann schon einmal das Grübeln an.

Ganz interessant auch, wie das Frühstück des Erec sein Ende findet, oder das Wappnen seinen Anfang: Man reicht ihm einen Trank, den Johannessegen, der Schutz und eine glückliche Wiederkehr sichern soll. Dieser Brauch, der uns so interessant scheint, dass wir ihn demnächst in einem eigenen Artikel im Zusammenhang mit den magischen Vorstellungen jener Zeit behandeln werden, war in dieser Form wohl nur in deutschen Ländern bekannt; zumindest fehlen uns fremdsprachliche Belege. Unser arthurischer Held aber reitet deutschsprechend und nach den Regeln des 12. Jahrhunderts - und somit bereits unter besonderem kirchlichen Schutz.

Bei diesem Trank nämlich, der auch die Bezeichnung Johannisminne trägt, dessen Herkommen, wenn auch nicht der Name, zweifelsohne in heidnische Zeiten zurückgeht, handelt es sich zu dieser Zeit bereits um gesegneten Wein; die Kirche hat zu jener Zeit einen volkstümlichen Brauch in christlichen Kontext gebracht.

Man reichte ihn als Abschiedstrank geliebten Menschen, denen Gefahren bevorstanden - etwa in Form einer Reise in ferne Länder oder in der bevorstehnden Schlacht, im Tjost. Immer ist er als Akt der Fürsorge zu sehen, durch welchen die Angehörigen und Freunde die glückliche Wiederkehr des geliebten Menschen zu erbitten hoffen. Solche Gefühle, solche Verlustängste sind uns auch heute nicht weniger fremd als damals und vermögen uns darum direkt zu berühren, so wie wir sofort den Drang verspüren, die heulende Enide nach Erics Aufbruch in die Arme zu schließen und zu trösten ...

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