Saelde und Ere - Arbeiten an Texten

Übersetzen mittelalterlicher deutscher Texte - Teil 1

Der Eneas des Heinrich von Veldeke; Seite aus der Heidelberger Handschrift cpg403

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Warum sollten wir mittelalterliche Texte im Original lesen, wenn es doch Übersetzungen gibt?

Warum wohl, so wird sich manch einer an dieser Stelle die Frage stellen, warum wohl sollte man sich die Mühe machen und mittel- alterliche Texte im Original lesen. Denn das Lesen dieser alten Texte bedeutet ja immer auch Übersetzen - selbst dann, wenn es sich dabei um deutsche Texte handelt. Schließlich hat sich unsere Sprache seit der Entstehung dieser Werke so stark verändert, dass sich uns ihr Inhalt nicht mehr ohne weiteres erschließt.

Zu Beantwortung der Frage lassen sich mehrere Gründe angeben, selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es Verlage (Reclam, de Gruyter, usw) gibt, die bereits viele der mittelalterlichen Werke in zweisprachiger Form herausgegeben haben. Neben einem mittelhochdeutschen Text findet sich dort also in der Regel die neuhochdeutsche Übertragung. Wozu also die Mühe?

Nun, eine mögliche Antwort lautet: Nur im Original erschließt sich dem Leser der ursprüngliche Reichtum und die volle Schönheit eines Textes. (Dieser Aussage wird wohl jeder zustimmen, dem es etwa möglich ist, James Joyce 'Dubliner' nicht nur in Deutsch sondern auch im englischen Original zu lesen ...) Jede Übersetzung bedeutet einen Verlust - und dies gilt noch viel mehr für mittel- alterliche Texte, die von Menschen berichten, die lange vor unserer Zeit lebten und handelten und deren Denkweisen und Weltbil- der von unseren so verschieden waren. Wie viele Stellen lassen sich da nicht in der einen oder anderen Art deuten, unterschiedlich auslegen. In der beigelegten neuhochdeutschen Übertragung müssen jedoch bereits die Interpretationen des Übersetzers enthalt- en sein. Sind wir selbst nicht in der Lage, den Originaltext zumindest vergleichend querzulesen, ist uns jede Möglichkeit genommen, zu einer eigenen, vielleicht abweichenden Deutung zu kommen.

Zudem hat der Übersetzer eines mittelalterlichen Textes stets einige grundsätzliche Entscheidungen zu treffen: Die meisten dieser Werke stehen in Versform. Wie soll nun die Übertragung stattfinden? In einer Form, welche die Rythmik und Reimform weitestge- hend erhält, dabei aber zwangsläufig von der wörtlichen Übersetzung abgehen muss? Oder aber sollte versucht werden, eine mög- lichst wortgetreue Übertragung zu erreichen, eine Vorgangsweise, welche die Sprachmelodie des Originals opfert? Welche durch einen zusätzlichen Apparat und Kommentare viel erklären kann, aber jeden literarischen Genuss beseitigt. Das, was den Hörern all dieser höf ischen Romane und Minnelieder ursprünglich wohl ebenso wichtig war, wie der Inhalt.

Oder aber sollte man sich ganz des Originals entsagen und sich einer freien Nachdichtung anvertrauen? Wer jedoch den wuchti- gen, von Vorahnungen erfüllten mittelhochdeutschen Text des Nibelungenliedes, die Schönheit seiner Sprache mit einer derartigen Nacherzählung vergleicht, der weiß, dass dies nicht die Lösung sein kann! Was bliebe den von Shakespeare, wenn Sie den Inhalt Hamlets formlos nacherzählt bekämen?

Was ist nun die bessere Lösung? Nun, ich schlage vor, Sie nehmen sich den mittelalterlichen Originaltext zur Hand (nein, nicht den aus der Nationalbibliothek, der ja auch nur unter großen Schwierigkeiten und nächtens zu erlangen ist). Am besten besorgen Sie sich eine zweisprachige Ausgabe. Und dann kann es schon losgehen: Der Text wird im mittelhochdeutschen Original gelesen, die Übersetzung sollte nur zum Querlesen schwerverständlicher Stellen herangezogen werden. Zusätzlich bieten diese Ausgaben zu- meist äußerst informative Kommentare, wodurch sich viele weitere Informationen erschließen. Allerdings sollte man stets längere Abschnitte des Originals in einem Zug lesen, die Übersetzung nicht zu häufig zu Rate ziehen (dies kann ja später - eventuell vor einem zweiten Lesedurchgang - geschehen) und Kommentare gesondert betrachten.

Was aber, wenn man vor sich eine Textausgebe liegen hat, der es an einer neuhochdeutschen Übertragung mangelt? Nun, dann beginnt die ganze Angelegenheit interessant zu werden. Wie man in einem solchen Fall vorgehen könnte, darvon wird in den nächsten Teilen dieser Artikelserie die Sprache sein ...

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