Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Originaltexte

Under der linden

Liebespaar unter der Linde, Wandbild, 1886, Neuschwanstein

Als wir jüngst durch die Artikel unserer Arbeitsgruppe Mittelhochdeutsch klickten, stellten wir überrascht fest, dass denn eines der bekanntesten Lieder der damaligen Zeit fehlt - oder, wollen wir besser sagen, ein Lied, welches zu den von uns Modernen am häufigsten wiedergebenen und rezitierten Liedern der damaligen Zeit zählt. Das berühmte Lindenlied des Walther von der Vogelweide nämlich, jenes (künstlerischen) Schwergewichtes unter den mittelalterlichen Lyrikern und Sängern, der uns hier ja bereits freundlicherweise einige andere Lieder zur Verfügung gestellt hat. Und diesem Umstand soll hiermit abgeholfen werden, auch wenn wir nicht vergessen wollen, vor der unverhüllt erotischen Komponente zu warnen ...

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Unter der Linde

Unter der Linde,
auf der Heide,
da unser zweier Bette war,
da mögt ihr finden
schön bereitet
gebrochene Blumen und Gras.
Vor dem Walde in einem Tal,
tandaradei,
schön sang die Nachtigal.

Ich kam
zur Wiese gegangen,
da erwartete mich bereits mein Liebster.
Da ward ich empfangen
- Heilige Jungfrau! -
dass ich immer noch glücklich bin.
Ob er mich küßte? Wohl tausend Stunden
tandaradei,
seht, wie rot ist mir der Mund!

Da hat er gemacht,
so prächtig! -
aus Blumen ein Lager.
Darüber wird noch gelacht
inneglich,
wenn jemand den selben Weg gegangen kommt.
An den Rosen mag er's wohl merken,
tandaradei,
wo mein Haupt lag.
.

Dass er bei mir lag,
wüsste es jemand
(verhüt' es Gott!) - so schämt' ich mich.
Was er mit mir machte
niemals niemand
befinde das, denn er und ich
und ein kleines Vögelchen,
tandaradei,
und das mag wohl verschwiegen sein.

Under der linden

Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ muget ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
Vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.

Ich kam gegangen
zuo der ouwe,
dô was mîn friedel komen ê.
Dâ wart ich enpfangen,
- hêre frouwe! -,
daz ich bin sælic iemer mê.
kuster mich? wol tûsentstunt,
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der munt.

Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bette stat.
Des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir læge,
wessez iemen
(nu enwelle got!), sô schamt ich mich.
wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz wan er und ich
und ein kleinez vogellîn,
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.

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Anmerkungen:

Interessant ist, dass das 'Lindenlied' im Gegensatz zu seiner heutigen Beliebtheit, in seiner Entstehungszeit nur spärlich überliefert wurde - zumindest liegt diese Aussage nahe, wenn man die Quellenlage berücksichtigt: Nur zwei Handschriften bewahrten uns den Text in nahezu identer Form, ein Umstand, der auf eine gemeinsame Vorlage deutet. Andererseits setzte die Rezeption des Liedes und die Weiterführung seiner Motive bereits sehr frühe ein - etwa mit Hadloubs 'Blumenbett'-Liedern.

Einfach in seiner Gestaltung, lässt es doch sogleich eine Menge an Fragen aufkommen. Was ist das Besondere, dass uns auch heute noch so stark zu berühren und anzusprechen vermag; stärker, als so viele andere Texte aus jener Zeit? Und welcher Gattung ist es zuzuordnen? Dem Frauenlied? Dem Mädchenlied? Oder der Pastourelle? Wen lässt Walther hier erzählen?

An einem lieblichen Ort, dem in der höfischen Literatur so gerne zitierten locus amoenus hat dieses Treffen stattgefunden, nämlich unter einer Linde an einer schönen Aue, in einem Bett aus Blumen und Rosen, und offensichtlich ist es eine Frau, die, noch ganz in Freude befangen, von der beglückenden Liebesbegegnung mit dem Geliebten berichtet.

Es ist ein raffiniertes, fast kokettes Berichten - verschämt ('wüsste es jemand - verhüt' es Gott! - so schämt' ich mich!') und doch voller Mitteilungsdrang (Ob er mich küsste? ... Seht, wir rot ist mir der Mund!), das in seiner Aufgeregtheit ('Da ward ich empfangen - Heilige Jungfrau! -, dass ich immer noch glücklich bin!') an das Mädchen denken lässt, nicht an die reife Frau. Fast meint man noch die Hitze der Begegnung spüren zu können, das Brennen der Wangen. Kunstvolles Andeuten und Verhüllen, Bilder beschwören und doch das Eindeutige nicht aussprechen. Uns zum Voyeur machen und doch nur die Nachtigall Zeugin sein lassen. Kein Wunder, finden wir, dass diese personale Art des Erzählens auch heute noch zu begeistern vermag.

Lange Zeit bezeichnete man das Lindenlied, wie auch andere Lieder Walthers, als Mädchenlied. Man nahm an, dass er mit diesen Liedern einen Gegenentwurf zum Konzept der Hohen Minne etablieren wollte, ein Konzept, in dem die (gegenseitige) Erfüllung der Liebe möglich war, anstatt in ewigem Werben verharren zu müssen. Solches, dachte man, könne dem höfischen Liebhaber nur mit dem einfachen Mädchen vom Lande möglich sein, mit der Schäferin, nicht mit der Frau vom Stande.

Aber Achtung: Nirgends im Text lässt sich ein solcher Standesunterschied tatsächlich herauslesen. Interessant dazu die Diskussionen, die um die Interpretation des Ausrufs 'hêre frouwe!' geführt werden (und die vom betonenden 'Heilige Jungfrau' über die 'Hohe Dame' bis 'wie eine Hohe Dame' führen). Eine Argumentation, ein adeliges Mädchen wäre schwerlich derart unbehütet gewesen, geht unsereins fehl, da es sich um Literatur handelt, und damit um Fiktion. Und in einer solchen ist vielerley möglich, ein Umstand, der nicht zuletzt einen ihren Reize ausmacht. Da legen schon einmal Mädchen - und nicht nur Feen - ihre Kleider ab ...

Also können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob Walther wirklich das einfache Mädchen niederen Ranges im Sinne hatte, oder ob er mit Normen spielen wollte und phantasievoll Grenzen überschreiten. Es gibt aber noch weitere Details die das Lindenlied von der Pastourelle, wie aus der altfranzösischen Literatur und aus der Vagantenlyrik jener Zeit bekannt ist, unterscheiden (allerdings auch Parallelen, wenn wir an eine mittelhochdeutsche Liedstrophe der Carmina burana denken - 'Eine wunecliche stat het er mir bescheiden, da die bluomen unde gras stunden gruone baide; .... lodircundeie! lodircundeie!').

So fehlt etwa das typische nachträgliche Klagen und Bereuen des Mädchens, dem in der Pastourelle mit dem Liebesakt Leid angetan wird (auch wenn das Bereuen vielleicht nicht immer ganz ernst gemeint ist). Unsere Süße hingegen kann es ganz im Gegenteil kaum erwarten, ihr Glück hinauszuposaunen. Ihr ist keine Gewalt geschehen, im Gegenteil - sie, voll Glück, voller Worte, scheint auf Wiederholung jederzeit erpicht ...

Liebe im gegenseitigen Einverständnis, Erfüllung, Glück - schön! So soll es sein. Gut gemacht, Herr Walther! Wir werden vielleicht ein wenig lachen, wenn wir das niedergedrückte Gras passieren, uns ansonst aber ums Glück der jungen Leute freuen - und - natürlich! - verschwiegen sein, wie die Nachtigall. Tandaradei!

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