Saelde und Ere - Wissen um ...

... Verwandtschaftsbezeichnungen im Mittelalter

Ausschnitt aus dem linken Seitenflügel des Babenberger-Stammbaums, Stift Klosterneuburg, Hans Part und Andere, Tempera auf Holz, um 1490

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Warum denn das Wissen um zeitgeschichtlich korrekte Verwandtschaftsbezeichnungen wichtig ist ...

... erschließt sich den vielen unserer Leser, welche sich des Abends ausschließlich mit einer mittelhochdeutschen Aventüre aufs Lager - will heißen ins Bett - begeben, bei der Lektüre wie von selbst. Zumal sich das Personal mancher dieser phantastischen Romane - man denke nur an den Parzival - fast ausschließlich aus Schwagern, Onkeln, Tanten, Neffen und Nichten, Cousins und Kusinen zusammenzusetzen scheint. Nur dass Wolfram nicht die Freundlichkeit besaß, sie mit den uns geläufigen Begriffen zu benennen. Wie rücksichtslos von ihm ...

Schlimmer noch: Diejenigen unter euch - und wir wissen, es sind viele -, die selbst die Absicht hegen und sich von der Muse berufen fühlen, sich in die Riege der Autoren einzureihen und ein literarisches Meisterwerk zu erschaffen, dessen Handlung sich in jenen glückseligen Zeiten begeben soll, da noch Köpfe gespalten, Heiden erschlagen und Feen geküsst wurden, diejenigen also müssen gut Bescheid wissen um Muhmen und Basen, da ansonst der Leser säuerlich seine Miene verziehen wird beim Rezitieren.

> Köln, anno 1288. Es war 23h52, als der kleine Kevin in die Werkstatt seines Onkels Hugo stürzte. 'Chef! Chef!', brüllte er, gänzlich außer Atem, 'Tante Sophie lässt dir ausrichten, dass Kusine Jessica, diese einfältige Schnitte, das Mango-Tomaten-Soufflé im Herd verbrennen hat lassen - zuviel Heißluft!' Onkel Hugos Backenmuskeln begannen unkontrolliert zu zucken: alles, nur nicht das Mango-Tomaten-Soufflé! Er ließ den Blasebalg los und griff nach dem Hammer ...
Seien wir uns ehrlich: ein guter, ein dramatischer Einstieg für einen Roman, der im hohen Mittelalter spielen soll - wir sind gefesselt. Und doch lässt sich mit dem Wissen um die richtigen Bezeichnungen noch ein kleinwenig mehr an Glaubwürdigkeit und Zeitkolorit vermitteln. Darum soll es auch in diesem Artikel gehen - um die Vermittlung korrekter Bezeichnungen der lieben Anverwandtschft nämlich ...

Damit das nicht passiert, ist es wichtig, über Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid zu wissen: Parzival im Zweikampf mit seinem Halbbruder Feirefiz, Buchillustration aus der Werkstatt des Diebold Lauber, um 1445

Zwar erdreisten wir uns nicht, selbst besonders gut Bescheid zu wissen über Verwandtschaftsverhältnisse - wissen wir doch selbst über manche unserer eigenen Lieben nicht genau zu sagen, ob sie uns 4. Grades lieb sind oder doch nur 5. Grades teuer. Egal, das soll uns nicht abhalten, vergangene Verhältnisse unter die (damals erfundene) Lupe zu nehmen. Als treuer Einflüsterer steht uns dabei das schon mehrmals zu Rate gezogene'Etymologische Wörterbuch des Deutschen' zur Seite, welches viele interessante Einblicke zu geben vermag in sprachliche Entwicklungen.

Manches fällt uns nicht schwer zu verstehen, zum Glück. Mutter (ahdt., mhdt.: 'muoter') bleibt Mutter, und klingt übrigens in allen indoeuropäischen Sprachen - dank gemeinsamer Urform wohl - ähnlich. Beim Vater (ahdt.: fater, mhdt.: vater) gilt desgleichen.

Ihr verwendet Bruder (ahdt., mhdt: 'bruoder') und Schwester (ahdt., mhdt.: 'swester') in eurem Text? Es sei euch korrekterweise gestattet.

Auch der Sohn (ahdt.: sun(u), mhdt.: sun, suon, son) und die Tochter (ahdt., mhdt.: 'tohter') mögen in der Geschichte verbleiben wo sie sind, ebenso die vielen lieben Kinderlein (ahdt.: kind, mhdt.: kint), mit denen ihr euren Helden am Schluss zu beglücken gedenkt.

Auch Stiefkinder (ahdt.: 'stiofkind', mhdt.: 'stiefkint'), Stiefsöhne und Stieftöchter, sowie Stiefväter dürft ihr, neben den vielen Bankerten, durch die engen mittelalterliche Gassen streifen lassen. Die böse Stiefmutter (ahdt.: 'stiofmuoter', mhdt.: 'stiefmuoter') hat dagegen ihren Platz stets in einsamen Hütten im Wald oder zur gewittrigen Mitternacht unter der geheimen Hexenküche des Palastes.

Leicht, meint ihr? Nun, dann lasst uns zum verzwickteren Teil kommen. Kannte doch das Mittelalter noch die Unterscheidung der Onkeln und Tanten in solche, die zur Vaterseite gehörig und solche, die der Mutter anverwandt sind - eine Unterscheidung, die uns Heutigen nicht mehr geläufig ist. Zur Verwirrung mag noch beitragen, dass die verwendeten Bezeichnungen im Laufe der (nicht unerheblich wenigen) Jahrhunderte eine Bedeutungsausdehnung erfuhren um endlich wieder auf eine (geänderte) eingeengt zu werden; ganz schön kompliziert, nicht wahr?

Base (ahdt.: 'basa', mhdt.: base) gilt heutzutage als veraltete Bezeichnung für die Kusine. Im früheren Mittelalter war damit ausschließlich die Schwester des Vaters gemeint, später konnte der Begriff auch für die Mutterschwester stehen - also unsere heutige Tante meinen. Danach folgte eine Ausweitung auf alle weiblichen Verwandten, also auch auf die Töchter der Onkeln und Tanten, von wo schließlich im 18. Jahrhundert die Einengung auf eben nur noch die Kusine erfolgte.

Die Muhme (ahdt.: 'muoma', mhdt.: 'muome') war hingegen ursprünglich die Schwester der Mutter; ähnlich wie bei der Base, konnte die Muhme im späteren Mittelalter eine jede weibliche Verwandte bezeichnen; ein Begriff, der wiederum im 18. Jahrhundert von den differenzierenden Bezeichnungen Tante, Nichte, Kusine verdrängt wurde; immerhin als alte Muhme an der Spindel kann sie uns weiter noch gute Dienste leisten ...

Der Oheim (ahdt., mhdt.: oheim) oder Ohm (uns bestens bekannt als gartenscherenbewehrter Ohm Gambdschie) meint uns heute eine veraltete Form des Onkels. Im Mittelalter war er wohl ursprünglich der Mutterbruder, später konnte er aber auch den Onkel im modernen Sinn bedeuten; damit nicht genug wurde auch der Sohn der Schwester, der Neffe allgemein, und schließlich irgendein männlicher Verwandter damit bezeichnet.

Der Vetter hingegen (ahdt.: fetiro, mhdt.: veter(e)) - unser Cousin - war ursprünglich der Vaterbruder. Irgendwann wurde damit auch der Brudersohn bezeichnet - Vetternschaft meinte also das Verhältnis aller Geschwisterkinder untereinander. Später konnte der Vetter auch der Mutterbruder sein, danach auch ein beliebiger männlicher Verwandter. Daraus erfolgte schließlich wieder die Einengung auf unser heutige Bedeutung.

Die Bedeutung der Vettern als männliche Verwandte findet sich noch im (neuzeitlichen) Begriff Vetternwirtschaft, der ja die Bevorzugung Familienangehöriger (oder Freunde) ohne Berücksichtigung von Befähigung und Talent meint.

Zu guter Letzt bezeichnete der Schwager (ahdt.: swagur, mhdt.: swager), auch Schwäher, ursprünglich neben unserem heute geläufigen Schwager auch den Schwiegervater, den Schwiegersohn - kurzum jeden angeheirateten Verwandten. Bei der lieben Schwägerin sind analoge Entsprechungen zu denken ...

Jetzt wissen wir mehr. Und unser Romanbeginn? Der lautet nun folgendermaßen:
> Coellen, im Jahre des Herrn 1288. Mitternacht war nicht mehr fern, als Henslein in die Werkstatt seines Ohms stürzte. 'Meister! Meister!', japste er, gänzlich außer Atem, 'Schwäherin Gertrud lässt euch mitteilen, dass Base Bertha, dieses einfältige Ding, über dem Bereiten des Hirsebreis eingeschlafen ist - zuviele Minnenächte zuletzt!' Ohm Hugos Backenmuskeln begannen (immer noch) unkontrolliert zu zucken: Funkenflug! Er griff nach der Zange, zog den glühenden Stahl aus der Esse und griff nach dem Zehnpfünder. 'Den drei Königen sei Dank', seufzte er, 'ich kann Hirsebrei ohnehin nicht ausstehen ...'

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