Sælde und êre - Mittelhochdeutsche Schlüsselbegriffe

Hier mögt ihr nun einiges über Begriffe erfahren, deren Verständnis für die Interpretation mittelhochdeutscher Texte bedeutsam ist ...

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'... er minnet krumbe unde sleht ...' - die Eigenschaft sleht als Warnung vor zu wörtlicher Übersetzung

Dieser Artikel soll nicht alleine dazu dienen, einen mittelhochdeutschen Begriff zu erläutern - denn, so wird wahrscheinlich manch einer an dieser Stelle fragen, was gäbe es zum Begriff 'sleht' denn auch schon groß zu erläutern, wo doch jedermann dahinter unsere Adjektivgruppe schlecht, minderwertig, unwürdig etc. zu erkennen vermag. Lies bloß das 'h' als 'ch' und schon ist die lautliche Entsprechung offensichtlich. Doch hier wollen wir bereits eine erste Warnung aussprechen: Nicht immer ist die wortwörtliche Übersetzung die korrekte!

Obwohl diese Vermutung für unseren gewählen Begriff zuerst nahe läge: Nimm nur, geneigter Leser, die mittelhochdeutschen Textausschnitte, die wir unten in den beigen Kästchen beigestellt haben. Im ersten, einer der Tierfabel des Strickers (sie liegt übrigens hier im vollständigen Originaltext vor), wird das Verhalten jener ruchlosen, triebgesteuerten Kerle beschrieben (die es heutzutage zum Glück nicht mehr gibt), denen alle Mittel und Tricks recht sind, um jegliche Frau ihren Wünschen gefügig zu machen und mit dem der Katze verglichen.

Was anderes als negativ beseztet Adjektive sollten wir so einem Schurken zugestehen: krumbe unde sleht wirbt er um sein Vergnügen, attestiert ihm der Stricker - also niederträchtig und auf verabscheungswürdige Art, meinen wir herauszulesen. Schlecht, in unserer Bedeutung des Wortes. So würden wir's bei oberflächlichem Lesen vielleicht übersetzen (und genau so ist's uns - wir gesehen's mit Scham - beim erstmaligen Überfliegen des Textes auch widerfahren ...)

....
Er nascht an schlechten und an guten.
Tut ihm eine nicht seinen Willen,
der wird er dennoch seine Aufwartung machen,
....
Er wirbt hinterrücks oder auf direktem Weg
und verhält sich dabei nach Katzenart.
....

(Der Stricker, Die Katze)

Und wie legten Orgeluse und Gawain den Weg von der Burg zum herrlichen Forst zurück? Auf einer Straße wît unde sleht steht da. Breit und schlecht, passt das noch recht zusammen? Wir beginnen zu zweifeln. Schlussendlich überzeugt uns der dritte Textausschnitt, in dem Wirnt das hübsche Feenmädchen Florie so anschaulich und begeistert schildert, dass wir uns sofort an Gawains Stelle versetzt sehen möchten, in unseren Zweifeln.

....
nun ritt sie mit ihrem Gast
von der Burg ein gutes Stück Weges
eintlang einer breiten, geraden Straße,
bis vor einen lichten Wald.
....

(Wolfram v. Eschenbach, Parzival, In der wilden Schlucht, 601/7 - 10)

....
ihre Brauen [waren] braun, gerade und schmal.
....

(Wirnt von Grafenberg, Wigalois, Vers 875)

Denn an der angeführten Stelle stutzen wir. Ihre Augenbrauen (Achtung, brâ hat nichts mit den seidenen, spitzenverzierten Damenunterwäschestücken zu tun, rufen wir an dieser Stelle unseren englischsprechenden Lesern zu!) sollen brûn, sleht unde smal gewesen sein (und sind es immer noch; schließlich altern Feen nicht). Braun und schmal, das geht noch an - aber schlecht? Im Zusammenhang mit der Schilderung eines echten Hinguckers? Offensichtlich kann etwas nicht stimmen mit unserer allzu sinngemäßen Übersetzung von sleht!

Wie können wir uns all das erklären? Durch einen Umstand, den wir bereits in anderen Beiträgen mehrfach angesprochen haben: Dass nämlich mittelhochdeutsche Begriffe im Laufe der Zeit auf ihrem Weg in unser modernes Deutsch eine Einschränkung ihrer Bedeutung erfahren konnten (man denke nur an die hochgezîten, auch eine Ausweitung oder - wie in unserem geschilderten Fall beim Adjektiv sleht - gar eine Bedeutungsumkehr.

Und diese Bedeutungsänderungen sind es, die (abgesehen von fehlendem historischem und soziologischem Wissen) die größte Schwierigkeit für eine sinnrichtige Übersetzung darstellen, nicht jene Begriffe, die wir Heutigen gar nicht mehr verstehen - nach denen lässt sich nämlich in einem der vorzüglichen Netzwörterbücher jederzeit nachschlagen. Aber wer würde von sich aus auf die Idee kommen, die Bedeutung von sleht, die man von vornherein zu kennen glaubt, zu überprüfen?

Vielleicht aber hätten uns gewisse Redeformen dabei geholfen, vor der zu direkten Übersetzung stutzig zu werden. Denn was sollte unser 'schlechthin' mit schlecht zu tun haben? Meint es nicht vielmehr ganz und gar, komplett, durch und durch ... also allesamt positiv besetzte Begriffe? Und die Redensart 'schlecht und recht'? Warum wurde sie in der Neuzeit häufig zu 'mehr schlecht als recht' abgewandelt - vielleicht weil man sich des Bedeutungswandels von schlecht bewusst war? Ursprünglich meinte 'schlecht und recht' nämlich sinngemäß 'einfach und richtig'.

Tatsächlich kann das Adjektiv 'sleht' in mittelhochdeutschen Texten vieles bedeuten: eben (wie Gawains Straße), gerade (uns fallen wieder Flories Brauen - und nicht nur die! - ein), glatt, klar, richtig, geschlichtet, bequem und leicht, zuverlässig, recht, rechtsgültig, rechtmäßig, nicht voll, leer, nicht kraus, nicht wirr, unverstellt. Über die ebenfalls möglichen Bedeutungen aufrichtig, schlicht, ungekünstelt, einfach, gewöhnlich, einfältig, (die durchaus als positiv bewertet wurden) findet sich auch die Interpretation als dumm.

Was von diesen vielen Begriffen im konkreten Fall zu setzen ist? Das hängt ganz vom Zusammenhang ab und macht eine Übersetzung nicht eben leichter. So konnte das spätmittelhochdeutsche 'slehtecheit' u.A. einerseits die Ebene meinen andererseits die Aufrichtigkeit!

Seit dem 15. Jahrhundert fand dann eine Bedeutungseinschränkung statt. Schlecht wurde zum Gegensatz von Eigenschaften wie 'kostbar, wertvoll, ausgezeichnet, besonders' und damit meinte es schließlich 'nicht gut', 'geringwertig' ... womit schon fast bei unserem heutigen Gebrauch angelangt wären.

Was aber ist mit den anderen Bedeutungen geschehen - einfach, nicht wirr, gerade? Die gingen auf unser Adjektiv 'schlicht' über, wobei wir aber hier im modernen Gebrauch wiederum eine Differenzierung erkennen. Da ist einerseits das schlichte Auftreten, das als Fehlen von Angeberei interpretiert werden kann, andererseits wird eine Charakterisierung als schlichtes Gemüt meist nicht unbedingt etwas Positives meinen ...

Und wie ist's nun mit der Werbung krumbe unde sleht in der Fabel des Strickers: Die erfolgt tatsächlich hinterrücks, auf Umwegen ('krumbe') oder auf sehr direktem, geraden Weg ('sleht'), unverblümt, je nachdem, wie's dem Schuft eben am erfogversprechendsten erscheint ...

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